Katastrophen/Formen - Der Erste Weltkrieg und die Lyrik am 9.6.2014

Der Erste Weltkrieg veränderte nicht nur die politische Ordnung in weiten Teilen der Welt grundlegend. Er führte auch zu einer massiven Erschütterung von Denk-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen. Das zeigt sich besonders deutlich in der Lyrik dieser Zeit. In ihr spiegelt sich die Katastrophe dieses Krieges, der  Zusammenbruch alter Weltbilder und die Suche nach neuen Wirklichkeitsmustern.

Diese Veranstaltung präsentiert Gedichte zum Ersten Weltkrieg aus über zwanzig der am Krieg beteiligten Länder. Der Lyrik aus den Kriegsjahren wird dabei mit Gegenwartsdichtung zum Thema begegnet.

 Den ersten Teil der Veranstaltung bildet eine vielstimmige Sprechperformance von 45 Minuten Länge, in der Gedichte aus den Jahren 1911-1926 aus zwanzig der am Ersten Weltkrieg beteiligten Ländern in deutscher Übersetzung erklingen. In thematischen Bögen und spannungsreichen Konstellationen werden im Konzert der Gedichte Verlaufslinien des Krieges und der Wandel der Wahrnehmung deutlich anfängliche Kriegsbegeisterung kippt in den Schock über die realen Gräuel des Krieges, darin neue Kriegstechnologien den Einzelnen zur austauschbaren Position machen, neue Realitäten stellen alte Sprachwelten in Frage. Diese von Johann Reißer eingerichtete und inszenierte Gedichtperformance wird von den  SprecherInnen Carolin Bohn, Iwona Mickiewicz, Xaver Römer und Julia Trompeter umgesetzt. Gerahmt und begleitet wird der Gedichtvortrag von Bild-, Ton- und Filmeinspielungen.

Eine anschließende Gesprächsrunde reflektiert das Verhältnis von Lyrik und Erstem Weltkrieg. Dabei kommen Fragen nach Umbrüchen, neuen Formen und Wahrnehmungsweisen in der Lyrik zur Diskussion sowie die Frage nach der Rolle der Avantgarden im Krieg. Die Teilnehmer des Gesprächs sind der belgische Dichter und Literaturwissenchaftler Geert Buelens, der Ausstellungskurator Michael Lailach und die Romanistin Marina Hertrampf.

Den historischen Gedichten wird im zweiten Teil, einer etwa 60-minütigen poetischen Reflektion über den Ersten Weltkrieg vermittels zeitgenössischer Lyrikstimmen zum Ersten Weltkrieg, begegnet: Jacques Darras (Frankreich) trägt aus seinem kürzlich erschienenen Langpoem "Tout reprende à 1914" vor, darin das Verhältnis von Dichtern wie Apollinaire, Péguy und Stadler Krieg zum Krieg behandelt wird. Vörös Istvan (Ungarn) liest Auszüge aus seinem Gedichtband "Heidegger als Postbeamter", ein existenzialistisches Versepos, das u. a. vom Ersten-Weltkriegs-Wehrdienst des berühmten Philosophen in der Postzensur erzählt. Die Gedichte, die Antony Rowland (England) präsentiert, beschäftigen sich mit den Erlebnissen britischer Soldaten, die im Tank Regiment in Combrai an der Somme kämpften. Geert Buelens liest Gedichte zum Ersten Weltkrieg aus einem Gedichtband und einer kürzlich erschienenen Sammlung zum Thema Krieg. Sergej Moreino (Lettland) trägt Gedichte vor, die die Erlebnissen seines Großvaters, der in den Reihen der belgischen Bürgermiliz bei Lüttich kämpfte, reflektieren. Und Xaver Römer und Julia Trompeter (Deutschland) performen Sprechduette, die auf Paul van Ostaijens monumentalen Langgedicht "Besetzte Stadt" sowie auf Thomas Klings großen Gedichtzyklus "Der Erste Weltkrieg" basieren.

Mit diesen Beiträgen aus Vergangenheit und Gegenwart lässt die Veranstaltung ein facettenreiches Bild der Umwälzungen, die der Erste Weltkrieg für Dichtung und Gesellschaft mit sich brachte, entstehen.

Beim Zusammentragen und der Auswahl der Gedichte wurde die Literaturwerkstatt Berlin von folgenden Partnerorganisationen unterstützt: Hrant Matevossian Foundation (Armenien), passa porta (Belgien), Southbank Centre (England), Centre Poesie Marseille (Frankreich), Croatian PEN Centre (Kroatien), Literaturhaus Wien (Österreich), Rumänisches Kulturinstitut (Rumänien), Serbian PEN Centre (Serbien), Meridian International Poetry Festival Czernowitz (Ukraine) und Petőfi Irodalmi Múzeum (Ungarn).